Wenn man am Freitag morgens um neun Uhr in Hamm in den ICE steigt und einen drei Stunden später vor dem Berliner Hauptbahnhof trotz angekündigten Regens die Sonne begrüßt, ist man sofort in Hauptstadtlaune. Die Frage „Wie werde ich meinen Trolley los?“ ist schnell beantwortet: S-Bahn bis Bellevue, zur Paulstraße laufen, im Motel One einchecken, Gepäck ins Zimmer bringen. Nach kurzem Päuschen wieder los zum Spaziergang entlang der Spree zum Touristenoffice im Hauptbahnhof, Berlincard für 48 Stunden, Tickets für die lange Nacht der Museen, noch ein paar Flyer mitnehmen und sich dann zum eigentlichen Anlass dieser Reise begeben, dem veganen Sommerfest auf dem Alexanderplatz. Fahren oder laufen? Wir entscheiden uns für laufen, überqueren im Touristrom die Spree, machen ein Foto von unserem schönen Parlamentsgebäude, dem sogenannten Reichstag, und gehen Richtung Friedrichstraße, wo wir wieder überlegen können, ob wir in die U-Bahn steigen. Und auf dem Weg dahin hält es uns schon am Bundespresseamt, wo man Infostände, Tische, Stühle und einen roten Teppich vorbereitet hat und da fällt uns ein: Morgen ist ja Tag der offenen Tür in den Regierungseinrichtungen. Ach, ja. Jetzt meldet sich aber erst mal der Hungerast und wir streben zur U-Bahn-Station Friedrichstraße, bleiben aber doch oben, denn Musik liegt in der Luft, richtig gute. „Stay“, singt das Mädel und das machen wir auch. U-Bahn ist plötzlich gar kein Thema mehr. Nach einem kleinen Obolus in den Gitarrenbag gehen wir die Friedrichstraße entlang bis zu den Linden, wo wir ja auch immer über neue Panoramen staunen. Diesmal ist es der Rohbau des Berliner Schlosses mit Kuppel, kennen wir bisher nur vom Modell in der Humboldt-Box. Das vegane Sommerfest auf dem Alexanderplatz erreichen wir schließlich doch zu Fuß und stellen fest, dass sich gegenüber dem vergangenen Jahr nicht viel verändert hat außer, dass wir nach mehr als einem Jahr ohne Fleisch, Eier und Kuhmilch so gut wie über alle Facetten bestens informiert sind. Beim Food Truck von Krawummel aus Münster holen wir uns Potatoe Wedges mit veganer Majo und Falafeltasche, setzen uns an einen der Tische und haben sogleich wieder eine Idee für den weiteren Verlauf dieses Samstags, die East Side Music Days. Zwei Tage lang gibt es entlang der East Side Galery in der Mühlenstraße ein Street Music Festival. Nach Cappuccino bei Starbucks am Fernsehturm fahren wir vom Bahnhof Alexanderplatz mit der S-Bahn bis zur Warschauer Straße. Bei der Gelegenheit zieht es uns doch erst mal ein paar Minuten entfernt in den veganen Supermarkt Veganz mit seinen Goodies, wo wir uns Wraps zum Mitnehmen auf Vorrat holen. Wer weiß, wo wir wieder was bekommen gegen den Hungerast. Und da machen wir doch eine tolle Entdeckung. Eine Treppe höher ist jetzt nicht mehr Björn Moschinskis Mio Matto, sondern ein neues Restaurant, dessen Karte wir uns sogleich im Eingang neben dem Schild „Please take a seat“ in Ruhe anschauen. Angebot und Preise sind okay. Ja, morgen werden wir uns im „The Bowl“ zwei Plätzchen suchen. Jetzt aber zur Oberbaumbrücke und an der Spree entlang bummeln, wo schon an den verschiedenen Ecken Musik in der Luft liegt. Wir erleben eine Multikulti Szenerie wie sie an einem warmen Sommerabend schöner und friedlicher nicht sein könnte. Da verweilen wir doch gerne bei der einen oder anderen Band und erleben zwischen Spreeufer und bemalter Mauer bei untergehender Sonne Straßenmusik satt vom Feinsten.
Der nächste Tag in der Hauptstadt könnte hart werden. Tag der offenen Tür der Bundesregierung 2015 und abends lange Nacht der Museen. Das will gut geplant sein. Unser eigentlicher Reiseanlass, das vegane Sommerfest, ist völlig in den Hintergrund gerückt, vielleicht mal ein Snackchen zwischendurch, wenn es sich denn ergäbe. Wir beginnen mit dem Innenministerium, das wir zu Fuß entlang der Spree erreichen, und erleben am Eingang nach der Taschenkontrolle das musikalische Kontrastprogramm zur Straßenmusik an der East Side Galery, das Bundespolizei Orchester Berlin in schönstem Bigband Sound mit Reinhard Meys „Über den Wolken“. An Themenständen und in Dialogen kann jeder Besucher sich über Schwerpunkte von Personen-, Verfassungs- und Datenschutz bis zur Asylpolitik informieren. Das macht Lust auf mehr. Wieder ist die U-Bahn-Station Friedrichstraße unser Ziel und wieder zieht es uns zur Spree, über die Brücke vor dem Hauptbahnhof. Bundespresseamt und ARD Hauptstadtstudio streifen wir kurz und fahren mit der U-Bahn bis zur Kochstraße. Im Garten des Finanzministeriums nehmen wir einen veganen Pie, bekommen veganes Eis und schauen uns eine vom Zoll präsentierte Abseilvorführung an der Fassade an. Nach einem Rundgang durch das historisch bedeutsame Gebäude und Informationen zu den heutigen Aufgaben des BMF wandern wir zum auswärtigen Amt. Chef Frank-Walter Steinmeier persönlich sitzt auf der Bühne in der großen Halle umringt von einer wahren Menschentraube, gibt Antworten und Autogramme. „25 Jahre Freiheit und Einheit“ heißt das Motto und im sogenannten Weltsaal wird der Weg zur deutschen Einheit eindrucksvoll dokumentiert. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau- und Reaktorsicherheit entdecken wir zufällig auf dem Weg zur Mall of Berlin, streifen einen kleinen Einblick in die Welt des Regenwurms, machen in der Mall ein textiles Einkäufchen und wundern uns, wie schnell so ein Berlintag zuende gehen kann. Dabei haben wir uns doch noch einiges vorgenommen.
Nach Steampunk im Nikolaiviertel, Cappuccino im S-Bahnhof Alexanderplatz und kurzem Aufenthalt im Hotel erreichen wir gegen sieben das „The Bowl“, erfreuen uns an Buddhabowls und selbstgemachter Limonade und erreichen nach einer Stunde unsere erste Station der langen Nacht der Museen, die Berlinische Galerie, wo ausschließlich in den Jahren ab 1870 in Berlin entstandene Kunstwerke präsentiert werden. Zur Sonderausstellung zu Architektur und Städtebau der 60er „Radikal modern“ können wir noch ein bisschen in die Führung hineinhören und in den Fotos anschauen, wie der Bereich rund um die Gedächtniskirche damals ausgesehen hat bzw. wie Künstler ihn gesehen haben, beispielsweise die Europa-Center-Vision von Engelbert Kremsers, schön abgedreht. Als wir „Die Mauer. Das Asisi Panorama zum geteilten Berlin“ am Checkpoint Charlie erreichen, ist es schon dunkel geworden und es heißt, geduldig in der Schlange warten und den Abgasgestank der bunt bemalten Trabis des gegenüberliegenden Trabimuseums ertragen. Die fahren nämlich pausenlos ihre Runden. Das Innere des eigens für ein überdimensionales Panoramabild errichteten Rundbaus entschädigt für Warterei und Trabiabgase. Auf einer erhöhten Plattform stehend fühlen wir uns mitten drin in der Szenerie an der Berliner Mauer an einem Herbsttag in den 80er Jahren. Wir schauen auf die DDR Seite mit Todesstreifen, verlassenen Häusern und Wachturm und im Gegensatz dazu in das bunte Leben auf der westlichen Seite im Schatten der mit farbigen Graffitis bemalten Mauer. Da wird am Kiosk eingekauft, Currywurst gegessen und von einer Leiter ein Blick auf die andere Seite der Mauer geworfen, wo in der kalten trostlosen stacheldrahtigen Öde der Fernsehturm in den Himmel ragt. Begleitet wird die Präsentation von einer Audioerinnerung an Musik und Reden zu Beginn der 60er wie Ulbrichts „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“ und Kennedys „Ich bin ein Berliner.“ Ein großartiges Werk von Yadegar Asisi.
Die lange Nacht der Museen fliegt dahin und wir fahren mit der M48 in Richtung Unter den Linden. Eigentlich wollten wir in die Gemäldegalerie, können aber an der hellerleuchteten Bertelsmann-Repräsentanz nicht vorbeigehen. Also hinein und gleich hoch auf den Dachgarten, wo viele Menschen vor der nächtlichen Kulisse des Berliner Doms, Fernsehturm und der Humboldtbox in Sesseln, auf Liegestühlen und Hockern friedlich beisammen sitzen. Als wir schon überlegen, wie wir nun weitermachen, entdecken wir im Programm die Ankündigung eines Live-Hörspiels von Stefan Kaminski und Britta Steffenhagen mit dem Titel „Paul Browski und die Monotonie des Yeh Yeh Yeh“. Die außerordentlich gekonnt performte skurril abgedrehte Geschichte mit gemeinsamem „give peace a chance“ wird unser Highlight der Museumsnacht.
Am Sonntagmorgen nehmen wir uns endlich mal die Zitadelle Spandau vor. An der U-Bahnstation „Zitadelle“ steigen wir aus und gehen ein paar Hundert Meter. Als wir uns der leuchtend roten Festung nähern, liegt mal wieder Musik in der Luft. Aus dem Park kommen die schmissigen Töne. Auf einer Freilichtbühne sitzen wohl ein Dutzend ältere Herren an Piano, Saxophon, Trompete und Kontrabass nach dem Motto „Wir machen Musik“. Es ist die Siemens Big Band, deren Mitglieder sichtlich Spaß am Musik machen haben, ab und zu unterstützt von der blonden Sängerin Anna. „Bei mir bist du schön.“ Ach, ja, solche Musik im Park kann man sich an diesem sommerlichen Sonntagmorgen doch gut eine Weile anhören, bevor wir uns dann die Zitadelle ein bisschen erlaufen. Eine große Bühne für Musikevents mit Größen aus Rock und Pop ist im Innenraum aufgebaut. Beim anschließendes Gängelchen durch die Spandauer Altstadt entdecke ich einen Revolutionsplatz und eine Carl-Schurz-Straße. Im Jahre 1850 wurde nämlich in Spandau Revolutiongeschichte geschrieben. Carl Schurz, der später nach seiner Auswanderung in Amerika politische Karriere machte, befreite in einer spektakulären Aktion den Bonner Hochschullehrer und Revolutionär Gottfried Kinkel aus dem Spandauer Zuchthaus.
Wir beenden unsere kleine Berlinreise nach dem Motto „veganes Sommerfest“ mit einem Abschiedsbowl bei „The Bowl“ an der Warschauer Straße in Friedrichshain.
Da staunt selbst der Berlin-Bewohner, was er so alles an einem Wochenende verpasste …
… der Besucher hat auch gestaunt, was alles los war in der Hauptstadt 🙂