Welcher Künstler gehört zur Avantgarde? Wer steht im Licht, wer im Schatten? Das kann man sich fragen, wenn man auf auf Essens Straßen und Plätzen und im Eingangsbereich des Folkwang Museums auf riesengroßen Plakaten den Titel der Sonderausstellung liest: „Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister“. Hauptmotiv auf all diesen Werbeträgern ist ein bekanntes Bild von Henri Rousseau „Le lion, avant faim, se jette sur l’antilope“, ausgeliehen von der Foundation Beyeler, Riehen/Basel. Dieses zwei mal drei Meter große Gemälde und weitere von Rousseau bilden auch den Mittelpunkt in der Anordnung der Objekte in dem großen Ausstellungsraum. „Ein Schatten begleitet die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Dieser Schatten sind die künstlerischen Autodidakten“, steht auf der ersten Seite des Informationsflyers. Und da frage ich mich doch, ob denn Henri Rousseau zur Avantgarde oder zu den Meistern gehört, die aus deren Schatten heraustreten sollen, und wäre in einem Satz zu nennen zum Beispiel mit Pablo Picasso, Max Ernst, Paula Modersohn-Becker und Paul Gauguin, die jeweils mit einem populären Bild als „Schlüsselwerke aus Moderne und Gegenwart“ in der Ausstellung vertreten sind? Nein, Rousseau war keiner gängigen Schule oder Kunstrichtung zuzuordnen, sondern ein Autodidakt, genauso wie die anderen, deren Gemälde, Fotografien und Skulpturen den Weg aus dem Schatten in die Ausstellung gefunden haben. Die Kuratoren haben die Werke von 13 weitgehend unbekannten Künstlern, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, aus dem Schatten der weltbekannten Avantgarden der Moderne in das Licht der Essener Ausstellung geholt. Da ist die Hausfrau, die großflächige Blumenbilder gemalt hat, der Bergmann, der als lungengeschädigter Frührentner eine Vielzahl von Skulpturen geschaffen hat und der mexikanische Maler Martin Ramirez, der in psychiatrischen Kliniken eine Welt aus Tunnelgebilden, Zügen und Schienen auf das Papier gebracht hat. Allen gemeinsam ist ein hohes Maß an Kreativität im Umgang mit Praktiken und Materialien, mit dem sie jenseits von Mainstream und Kommerz einzigartige Werke geschaffen haben. Jeder Künstler für sich ist es wert, sich einen ganzen Tag lang mit ihm zu beschäftigen. So viele Anregungen, so viele Geschichten, von Bill Trailors skurrilen Figuren auf einem braunen Haus über Morris Hirshfields Mädchen auf dem Sofa mit Tauben bis zu Patrick J. Sullivans apokalytischer Szenerie aus der vierten Dimension, alles gruppiert um Henri Rousseaus antilopenfressenden Löwen.
„Der Schatten der Avantgarde“
- von renate
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